Anerkennen statt hierarchisieren

Der Utopische Raum

In der Veranstaltungsreihe „Der Utopische Raum“ der medico-Stiftung ging es 2022 unter dem Stichwort "transkulturelles Gedächtnis" auch um aktuelle gedenkpolitische Kontroversen: Wie lässt sich unterschiedlicher Gewalt- und Unrechtserfahrungen solidarisch erinnern?
 

Die Geschichte von Krieg und Verfolgung zu erzählen, bedeutet den – oft konfligierenden – Geschichten der Opfer Geltung zu verschaffen. Das wissen die Menschenrechtler:innen der langjährigen, phasenweise mit Stiftungsgeldern geförderten medico-Partnerorganisation Afghanistan Human Rights and Development Organisation (AHRDO) sehr genau. Zu diesem Zweck hatten sie 2020 ein Museum in Kabul eröffnet. Ein Museum, das ein würdevolles Erinnern an die Opfer der verschiedenen Kriege in Afghanistan ermöglichte und Hinterbliebene zusammenbrachte. Ein Museum, das in einem zutiefst verwundeten Land eine Ahnung von Frieden und Heilung aufkommen ließ – und das nun selbst Geschichte ist. Nach der erneuten Machtübernahme der Taliban 2021 mussten die Menschenrechtler:innen fliehen und konnten nur wenige Dokumente und Materialien mit ins Exil nehmen. Dass sie es trotz Gefahr für Leib und Leben überhaupt versuchten, zeugt von der in langjähriger Arbeit gewachsenen Überzeugung, dass nicht nur die Dokumentation und Ahndung von Kriegsverbrechen, sondern auch die wechselseitige Anerkennung verschiedener Erinnerungen und Leiderfahrungen die Grundlage für Frieden und Demokratie ist.

Unter dem Eindruck der desaströsen Ereignisse in Afghanistan begann die dritte Runde des „Utopischen Raums im globalen Frankfurt“, wieder organisiert von der medico-Stiftung zusammen mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung und der Frankfurter Rundschau. Sie konzentrierte sich diesmal auf Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die Verständigung über unterschiedliche Leid- und Unrechtserfahrungen. Bezugnehmend auf den Literaturwissenschaftler Michael Rothberg ging es unter anderem darum, „Viktimisierungsgeschichten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen“ zur Geltung zu bringen und Bezüge zwischen ihnen anzuerkennen, ohne zu relativieren.

Die erste Veranstaltung im Jahr 2022 fand am 27. Januar statt, dem 77. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz und wenige Wochen vor dem zweiten Jahrestag der rassistisch motivierten Morde in Hanau am 19. Februar 2020. Vertreter:innen der Initiative 19. Februar und der Theaterregisseur Nuran David Calis diskutierten darüber, was getan werden muss, damit öffentliches Erinnern nicht zu einer rein symbolischen Routinehandlung verkommt. Für Said Etris Hashemi, dessen Bruder bei dem rassistischen Attentat in Hanau ermordet worden war, soll das Erinnern Veränderung bewirken: „Wir kämpfen dafür, dass es kein sinnloser Tod war.“ Dass es dafür mehr braucht als Kranzniederlegungen an Mahnmalen, bekräftigte Newroz Duman von der Initiative 19. Februar: „Erinnern gehört in alle Räume, in alle Bereiche der Gesellschaft.“

Die Anerkennung widerfahrenen Leids und erlebter Ungerechtigkeit ist für alle zentral – für die Opfer der Kriege in Afghanistan, für die Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland und auch für die Nachfahren der Opfer des Genozids an den Armenier:innen. Dieser war Thema der Veranstaltung im März. Dass die Türkei den Genozid bis heute nicht als solchen anerkennt, sei eine aktive Verzerrung und Verkennung der Geschichte und damit eine fortgesetzte Verletzung der Überlebenden, so die Politologin Veronika Zablotsky. Die Historikerin Elke Hartmann sprach von „paralysierter Trauer“: Aufgrund der Leugnung des Genozids von offizieller Seite blieben viele in der Trauer gefangen. Um wieder ins Leben zu finden und eine Perspektive für kommende Generationen zu entwickeln, brauche es Formen des Erinnerns jenseits der Anklage und der Forderung nach offizieller Anerkennung. Eben darum bemüht sich Hartmann mit ihrem Dokumentationsprojekt „Houshamadjan“, das das Leben der Armenier:innen im Osmanischen Reich vor dem Genozid rekonstruiert. Zablotsky hingegen setzt auf „relationale Erinnerungsformen“. Solange die staatliche Anerkennung des Genozids verweigert werde, müsse eine „wechselseitige Anerkennung von unten“ entstehen, innerhalb der armenischen Diaspora, aber auch zwischen den Opfern verschiedener Gewaltverbrechen wie den Armenier:innen einerseits und den Herero und Nama andererseits. Beider Vorfahren sind Opfer von Genoziden unter Verantwortung oder Beteiligung des deutschen Kaiserreichs geworden.

Die wechselseitige Anerkennung von Leid ist auch das zentrale Thema des Buches „Den Schmerz der Anderen begreifen“, das die Publizistin Charlotte Wiedemann im Rahmen einer weiteren Veranstaltung des Utopischen Raums vorstellte. Sie sprach von der „zerklüfteten Landschaft des Weltgedächtnisses“: Es gebe Hierarchien nicht nur der Anerkennung vergangenen Leids, sondern auch der Anerkennung des Rechts eines jeden Menschen auf Nichtleiden in der Gegenwart. Noch immer verbreitet sei die Annahme oder zumindest das Gefühl, „in Afrika stirbt es sich leichter“. In ihrer Utopie eines anderen, an menschlicher Gleichheit und Verbundenheit orientierten Weltgedächtnisses gibt es einen gerechteren Umgang mit den jeweiligen Erinnerungen der Menschen an großes Leid und Massenverbrechen. Dies bekräftigt sie mit einem eindrücklichen Zitat aus dem Aufruf afrikanischer Intellektueller zur Unterstützung des kamerunischen Historikers Achille Mbembe, den sie zu Unrecht in Deutschland mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert sahen: „Die Beziehungen zwischen verschiedenen Erinnerungen an menschliches Leid sind keine Beziehungen der Vorrangigkeit oder Vorherrschaft, sondern der Solidarität. (…) Alle Erinnerungen der Erde (…) sind für den Aufbau einer gemeinsamen Welt unerlässlich.“

Ramona Lenz

Aufzeichnungen der genannten, aber auch weiterer Veranstaltungen der Reihe „Der Utopische Raum“ können in der Mediathek angeschaut werden.